Hermann Ullrich: Grenzen überschreiten
von Wolfgang Orians
„Grenzen zu überschreiten, hat mich schon immer gereizt“, sagt Hermann Ullrich bei einem Glas Rotwein in seinem Garten: „Sowohl politische und geografische wie persönliche Grenzen.“ Wer seine Objekte sieht, glaubt ihm sofort. Eine Hohlform mit einer nur wenige Zentimeter großen Öffnung, aber einem Durchmesser von fast 40 Zentimetern, ein Cowboyhut aus Holz, Holzblumen, an denen man unwillkürlich riechen will. Es scheint, als hätte er manchmal die Grenze des mit dem Material Holz Machbaren überschritten.
Der 1959 in Hockenheim geborene Ullrich ist Drechsler oder „Woodturner“, wie er selbst sagt. „Bei Drechseln denken zu viele Leute an gedrehte Stäbe für Treppengeländer“, sagt er. Damit haben die Holzobjekte von Hermann Ullrich tatsächlich nichts zu tun. „Ich war durch Zufall an eine Drechselmaschine gekommen, die verschrottet werden sollte. Was ich damit machen sollte, wusste ich aber nicht. Erst als ich ein Buch von Phil Irons gesehen habe, wurde mir klar, das ist Kunst, da mache ich mit.“
Eigentlich ist Ullrich Autodidakt. Das war bei der Malerei so und ist bei vielen Dingen so. Das Haus, in dem er lebt und arbeitet, die ehemalige Schreinerei seines Großvaters, hat er in jahrelanger Arbeit und fast ohne fremde Hilfe ausgebaut und renoviert. Auch beim Drechseln hat er so begonnen, sich dann aber doch entschlossen, Kurse zu belegen. „Bei Heinz Wiedemann aus Römerberg habe ich sehr viel gelernt. Ich habe an einem seiner Hutkurse teilgenommen und ihn als einen Menschen kennengelernt, der auf jede Frage eine Antwort hat.“
Der Weg von Hermann Ullrich zum Holzkünstler war lang und beinhaltete viele Grenzüberschreitungen. Er war 22 als er seine Stelle als Schreiner kündigte, den Rucksack packte und einfach loszog. Nicht ziellos, aber doch ohne festgelegte zeitliche Begrenzung. Am Ende war er fast zwei Jahre unterwegs und hat rund 20 Grenzen überschritten. Ägypten, Sudan, Uganda, Tansania, Pakistan, Indien, Nepal sind nur einige der Länder, die er bereist hat. Schwierig war dann das Zurückkommen: „Ich hatte das Gefühl, noch einmal ganz von vorne anfangen zu müssen.“ Das war 1983. Zwar hat er schnell wieder eine Arbeitsstelle gefunden, aber an das Leben im engen Deutschland musste er sich erst wieder gewöhnen.
In dieser Zeit hat er angefangen zu malen, großformatige Bilder in Wasserfarben oder Kreide. „Heute sehe ich die Malerei als Zwischenschritt“, sagt er, „die Bilder waren Ausdruck meines Inneren, sie zeigten mehr Leid als Freude.“ Knapp vier Jahre lebte er zwischen Arbeit und Staffelei: „Dann hatte ich das Gefühl, nicht mehr weiterzukommen, weder in meiner Malerei noch persönlich.“ Da packte er wieder den Rucksack. Es war der Drang, andere Länder und Kulturen kennenzulernen, das Reisen war zur Sucht geworden.
Dieses Mal war Lateinamerika sein Ziel. Er kann die Länder noch aus dem Kopf aufzählen: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, El Salvador, Guatemala…..Wieder waren es viele politische Grenzen, die er überschritt, aber bei dieser Reise kam noch eine andere Dimension hinzu, die Berge. Chimborazo, Cotopaxi, El Pisco, Aconcagua, alle zwischen 6 und 7.000 Meter hoch. Der Aconcagua ist der höchste Berg Amerikas. „Ich habe ein Leben über den Wolken gelebt“, sagt Ullrich, „aber es war mir wichtig, niemals die Bodenhaftung zu verlieren. Mich reizte nicht nur die Herausforderung der Berge, sondern auch die Menschen und die reiche Kultur Amerikas in der Zeit vor Kolumbus.“ Rund drei Jahre lang bereiste er den südlichen Teil der Neuen Welt, dann führte ihn sein Weg wieder nach Hockenheim.
Ullrich ist ein bedächtiger Mann, kein Aufschneider, kein Phrasendrescher. Auf die Frage, was ihn bei seinen Reisen am meisten beeindruckt hat, wiegt er den Kopf. Nein, es war nicht die Zugfahrt durch das Kriegsgebiet in Uganda, als ihm die Kugeln um die Ohren flogen und auch nicht der Aufstieg am Aconcagua, als er die Leiche eines lange vermissten Bergsteigers fand. „Am meisten beeindruckt hat mich das einfache Leben der Menschen, die ich auf meinen Reisen getroffen habe.“
Dieses archaische Leben findet sich jetzt in seinen Objekten wieder. „Ich will der Schönheit und Erotik des Einfachen Ausdruck geben“, sagt Ullrich. Seine Hohlformen erinnern an die Kalebassen afrikanischer Frauen, die sie bei oft stundenlangen Märschen auf der Suche nach Wasser auf dem Kopf tragen. Sie reizen dazu, sie anzufassen, über die geschliffene Oberfläche zu streicheln. Seine Blumenobjekte lassen an Orchideen im Amazonasdschungel denken, auch ohne deren marktschreierische Buntheit.
Für seine Arbeiten nutzt Hermann Ullrich einheimische Hölzer. Eiche, Rotbuche, Kirschbaum. Trotzdem wirken seine Materialien außergewöhnlich, ja bisweilen exotisch. Das liegt an einer besonderen Technik, die der gelernte Schreiner anwendet: Er lagert das noch feuchte Holz mehrere Wochen lang in einem speziellen Kellerraum. Die Zersetzungsprozesse, die das Holz in dieser Zeit durchläuft, führen zu einem filigranen Netz, das sich an der Oberfläche des fertigen Objektes zeigt.
Es ist die Mischung zwischen handwerklichem Können, untrüglichem Gespür für das Material und künstlerischem Ausdruck, die den unverwechselbaren Stil von Ullrich ausmacht. In seinem Garten, an dem Teich mit Seerosen und Kois, hebt er das Rotweinglas: „Heute geht es mir darum, die Erfahrungen und Erlebnisse, die ich in meinem Leben gemacht habe, in Kunst umzusetzen und möglichst viele Menschen daran teilhaben zu lassen.“